Der Sog der Universitäten ist zu stark – es fehlt an Jugendlichen, die eine Ausbildung machen wollen. Einige Initiativen tun etwas dagegen. Und kümmern sich auch um die besonders schweren Fälle.
Eigentlich war schon alles in trockenen Tüchern. Viele Bewerbungen hatte der Werbespezialist Neumann aus Delbrück in der Nähe von Paderborn für das neue Ausbildungsjahr zwar nicht bekommen, drei an der Zahl, um genau zu sein. Doch ein Kandidat war vielversprechend, in einem dreiwöchigen Praktikum hatte er sich schon ganz gut angestellt.
Kurz bevor die Ausbildung beginnen sollte, sagte er dann aber doch wieder ab. „Wir waren natürlich enttäuscht“, sagt Andrea Tepper, die Assistentin der Geschäftsführung. An einem kalten Wintertag hat sie daher auf einer Ausbildungsmesse in einer alten Hauptschule einen kleinen Stand aufgebaut, um doch noch einen Lehrling zu finden – und zwar für einen Beruf, den kaum jemand kennt, der aber viel zu bieten hat: den des Schilder- und Lichtreklameherstellers.
So wie Andrea Tepper und ihren Kollegen geht es vielen Unternehmen in Deutschland, nicht nur, aber gerade auch im ländlichen Raum. Ob Elektriker, Bäcker, Maurer, Florist oder Koch: Auszubildende werden händeringend gesucht.
Der Sog der Universitäten
Wie ernst die Lage ist, zeigt schon die Statistik der Bundesagentur für Arbeit. So war in diesem Jahr erstmals seit der Wiedervereinigung die Zahl der gemeldeten Ausbildungsplätze höher als die Zahl der Bewerber – eine klare Trendwende. Kürzlich schlug zudem der Deutsche Industrie- und Handelskammertag Alarm: Jeder zehnte Ausbildungsbetrieb aus Industrie und Handel, 17 000 insgesamt, bekommt heute keine einzige Bewerbung mehr. Der Sog an die Gymnasien und von dort an die Universitäten ist einfach zu groß. Die über viele Jahre gesunkenen Schülerzahlen tun ihr Übriges.
Während Politik und Wirtschaftsverbände noch darüber nachdenken, wie sie wieder mehr junge Menschen für eine duale Berufsausbildung begeistern können, sind in der Nähe von Delbrück konkrete Ideen entstanden und sogar schon in die Tat umgesetzt. Denn die alte Hauptschule, in der an diesem Tag Hunderte Schüler über die zugigen Flure drängen, dient nicht nur als Räumlichkeit für eine Ausbildungsmesse. Sie ist zu einer richtigen Berufe-Erlebniswelt geworden.
In den Klassenzimmern von einst gibt es nun eine Holz-, eine Elektro- und eine Metallwerkstatt, einen Dachstuhl, ein Gewächshaus, eine Altenpflegestation und ein kaufmännisches Büro – allesamt ausgestattet von Unternehmen vor Ort und mit den Materialien, Maschinen und Werkzeugen, die man im Berufsalltag tatsächlich braucht.
Die Idee: Die Schüler sollen selbst ausprobieren, welche Art von Tätigkeit ihnen Spaß macht. „Mit Flyern und ein paar Kugelschreibern lockt man heute niemanden mehr“, sagt Markus Kamann, der die Idee zu all dem hatte. „Da muss man sich schon ein bisschen mehr einfallen lassen.“
Kamann muss wissen, wovon er spricht, schließlich hat er es sich schon Anfang des Jahrtausends zur Aufgabe gemacht, junge Menschen in Ausbildung zu bringen. Allerdings unter umgekehrten Vorzeichen: Damals gab es in Deutschland mehr als vier Millionen Arbeitslose, und es fehlten Zehntausende Ausbildungsplätze. Eindringlich appellierte die Bundesregierung an die Unternehmen, mehr Lehrstellen anzubieten.
In dieser Gemengelage trat das örtliche Arbeitsamt mit einer ungewöhnlichen Bitte an Kamann heran, der im Hauptberuf einen auf Personalvermittlung spezialisierten Dienstleister leitet. Viele Unternehmen in der Region würden ja gerne ausbilden, seien aber zu klein, um dafür Mitarbeiter abstellen zu können. Oder zu spezialisiert, so dass sie zum Beispiel über die Dreh- und Fräsmaschinen, die für eine von der IHK anerkannte Ausbildung im Metallbereich nötig sind, gar nicht mehr verfügten. Ob Kamann nicht etwas einfalle?
Seine Antwort lautete: Bang – das steht für „Berufliches Ausbildungsnetzwerk im Gewerbebereich“. Dahinter verbirgt sich eine Art Rundum-sorglos-Paket für ausbildungswillige Unternehmen. Die Initiative hilft bei der Suche nach Bewerbern, stellt qualifizierte Ausbilder und bietet zum Teil sogar Werkunterricht in eigens aufgebauten Trainingszentren an. Organisiert ist das ganze als Verein, dem die Unternehmen beitreten und wofür sie Mitgliedsbeiträge bezahlen.
Elf dieser Netzwerke gibt es inzwischen, die meisten in Nordrhein-Westfalen, aber auch eins in Niedersachsen und eins im Schwarzwald. Oft sind der Landkreis, die Kommunen und örtliche Jobcenter beteiligt. Und natürlich die Unternehmen aus der jeweiligen Region. „Da sind tolle Betriebe dabei, die sich mit ihren Auszubildenden viel Mühe geben und diese langfristig halten wollen“, sagt Nicole Glawe-Miersch, die zwei der Netzwerke leitet. „Aber die sind so unscheinbar, dass sie ohne uns keine einzige Bewerbung bekommen würden.“
Berufsorientierung für Orientierungslose
Zurück in Delbrück, wo immer neue Busse Schulklasse um Schulklasse ausspucken. Viel Zeit ist nicht, um die einzelnen Betriebe kennenzulernen, das Gedränge groß. Das Berufezentrum richtet sich allerdings nicht nur an Schüler, sondern an alle, die eine Berufsorientierung brauchen: Flüchtlinge zum Beispiel, aber auch Menschen, die eine Umschulung machen müssen, zum Beispiel wenn sie wegen einer Mehlallergie nicht mehr als Bäcker arbeiten können.
Und dann gibt es da noch die Gruppe Jugendlicher, die nicht zur Schule gehen, sich aber auch nicht in einer Ausbildung befinden oder Arbeit haben. Oft spielen dabei familiäre Gründe eine Rolle, manchmal Mobbing in der Schule, ab und zu Drogen oder Alkohol oder schlicht der fehlende Wille.
Solchen Fällen nimmt sich in Delbrück Jacqueline Wolter – relativ kurze Haare, Typ große Schwester – mit viel Engagement an. Und bewirkt Erstaunliches: Jungen und junge Männer, die es nicht schaffen, morgens in die Schule zu gehen, stehen um 8 Uhr pünktlich am Bahnhof, um sich von ihr und ihrem Van einsammeln zu lassen. Heute sind sie alle zusammen auf der Messe unterwegs.
Wenn Wolter sich nicht um die Jungs (denn das sind sie meistens) kümmern würde – es würde wohl keiner tun. Die Schulen und Jugendämter haben oft schon aufgegeben. Im vergangenen Jahr hat sie 50 Jugendliche betreut, davon haben sechs mit ihrer Hilfe tatsächlich einen Ausbildungsplatz gefunden, 18 gehen wieder zur Schule, acht nehmen an einer Berufsvorbereitung teil, einer Handvoll konnte auch sie nicht helfen. „Das kommt vor, auch damit muss man leben“, sagt sie.
An diesem Tag aber ist sie guten Mutes. Ben möchte Erzieher werden und informiert sich an einem Stand ausführlich darüber, was er dafür braucht. Die lange Ausbildung schreckt ihn nicht ab, Ben weiß, was er will. Vor zehn Jahren hatten es Kandidaten wie er noch schwer. Wer einmal aus dem Raster gefallen war, für den war es oft nahezu unmöglich, wieder Fuß zu fassen. Heute hat Ben jedoch gute Chancen, sein Ziel zu erreichen. Denn auch Erzieher werden in Deutschland fast überall gesucht.